Deutschlands Kinder erleben die Natur als unzugängliche Blackbox – falsch verstandener Artenschutz fördert die Unbildung unserer jüngeren Generationen

von wirthstef

Die Kröte blähte sich auf wie ein Luftballon, als der Junge mittels Strohhalm Luft in den Anus des Tieres blies. Die Amphibie starb einen qualvollen Tod. Ein Kollege erzählte mir einmal, dass derlei Experimente sein frühkindlicher Zugang zur späteren seriösen Naturbeobachtung gewesen seien. Worin unterscheidet sich dann die brutale Herangehensweise des angehenden Naturwissenschaftlers von der des Sadisten, der aus Lust an der Gewalt agiert?

Nun, der angehende Wissenschaftler stellt sich nach seiner Tat die Frage, wie es überhaupt möglich sein kann, dass sich die Kröte wie ein Luftballon verhält. Um der Lösung des Problems näher zu kommen, hat er vielleicht denselben Versuchsansatz an einer Maus durchgeführt, die dann bei aller Bemühung nicht zur aufgeblähten Kugel heranwachsen wollte. Nun ist Literaturrecherche angebracht: Was unterscheidet die Maus anatomisch vom Frosch? Bessere Biologie-Schulbücher warten mit des Rätsels Lösung auf: Dem Froschlurch fehlen Rippen sowie eine Trennung der Brusthöhle von der Bauchhöhle in Form eines Zwerchfells.

Sollen also Schullehrern ihren Schützlingen, die einmal Karriere als Zoologen machen wollen, dazu raten, für den Fall der Fälle stets ein Sortiment unterschiedlich großer Strohhalme bei sich zu tragen? Die Antwort ist nein, denn Gewalt gegen Tiere ist unmoralisch und daher verwerflich. Derselbe Wissensgewinn lässt sich nämlich auch auf ganz andere Art und Weise erzielen. Denn, wer hätte es gedacht, Kröten können sich auch von ganz alleine aufblasen, ohne dabei Schaden zu nehmen, Mäuse hingegen nicht. Die warzigen Froschlurche tun dies sogar in ganz unterschiedlichen Situationen, nämlich bei Bedrohung durch Fressfeinde, um größer zu erscheinen, und während der Paarung.  Letzteres steht gemäß einer wissenschaftlichen Publikation australischer Forscher aus dem Jahre 2010 im Zusammenhang mit der sogenannten sexuellen Selektion. Weibchen blähen sich auf, so dass nur entsprechend große Männchen sie umschlingen können. Denn je mehr Körpermasse ein Männchen sein Eigen nennt, desto größer ist der Befruchtungserfolg. Zumindest gilt dies so für die australische Riesenkröte Bufo marinus.

Doch Kinder wissen heutzutage weder, dass Kröten und Frösche eine Metamorphose im Wasser durchlaufen, noch, dass sie sich räuberisch ernähren, ganz zu schweigen von einer Schallblase der Männchen oder dem Verlauf des Paarungsverhaltens. Wie also kann aus ihnen die Kröten-Forscher-Generation der Zukunft werden? Doch nur dadurch, dass schon Kinder zur Naturbeobachtung motiviert werden. Und was sich nicht ohne Weiteres im Freiland beobachten lässt, kann oft unter künstlichen Bedingungen bestaunt werden.

Wer schon einmal ein Terrarium gebaut hat, lernt sehr schnell, dass geeignete Tiere darin nur dann ein natürliches Verhalten zeigen, wenn der natürliche Lebensraum so exakt wie möglich nachempfunden wurde. Luftfeuchtigkeit, Temperatur, Bodengestaltung und geeignete Nahrungsbedingungen sind zu berücksichtigen. Terraristik oder Aquaristik können ein guter Start für ein Kind sein, später einmal den Weg in die Wissenschaft zu finden. Denn die Erkenntnis, dass Arten an einen ökologischen Kontext gebunden sind, lässt sich schwerlich eindrucksvoller gewinnen.

Doch zahlreiche einheimische Tiere stehen unter Artenschutz. Ihr Bestand ist gefährdet. Dies wird von Eltern oder Schullehrern gerne als Vorwand genutzt, um Kinder von der Erkundung der einheimischen Flora und Fauna kategorisch fernzuhalten, anstatt ihren Entdeckungsdrang mit der selbstverständlich gebotenen Rücksichtnahme auf unsere Natur zu unterstützen. Es lassen so leider falsch verstandene Naturschutzbestrebungen der Erziehungsbefugten die Vielfalt unserer Natur zu einer Blackbox für die Heranwachsenden werden. Unsere Artenvielfalt als etwas, von dem Kinder sich fernzuhalten haben. Wer kein Aquarium oder Terrarium anlegen, im Wald nicht von den Wegen abweichen und einen Maikäfer nicht anfassen darf, der erlangt weder Artenkenntnisse noch ein Verständnis von ökologischen Zusammenhängen. Und schlimmer noch: das Interesse an alldem wird gar nicht erst geweckt.

In meiner Zeit als freier Dozent an einer Berliner Universität habe ich Lehramtskandidaten im Master-Studiengang unterrichtet. Auffallend war, wie viele Studenten an Exkursionen nicht teilgenommen haben. Andere zeigten sich echauffiert, wenn bei Waldausflügen vom Wege abgegangen oder Insekten vorübergehend zur Vor-Ort-Bestimmung eingefangen wurden. Doch wie sonst wollen angehende Biologielehrer unseren Nachwuchs von der Vielfalt des Lebens begeistern?

Jungen Biologiestudenten in den ersten Semestern fehlt heutzutage häufig die grundlegende fachliche Allgemeinbildung. In ihrer Schulausbildung können sie daher nur unzureichend ausgebildet worden sein und auch außerhalb des Unterrichts zu wenig Erfahrung gesammelt haben. Nicht nur haben sie noch nie die Entwicklung einer Kaulquappe beobachtet, weil ihnen stets verboten worden ist, einige Froscheier ins heimische Aquarium zu verbringen, auch Zoobesuche gehören offenbar nicht mehr zum Standard moderner Kindererziehung. Nur so ist es zu erklären, dass Biologiestudenten im ersten Semester häufig die Menschenaffen, immerhin unsere nächsten biologischen Verwandten, nicht benennen können.

Mein Weg zur Zoologie lief über die Terraristik. Und ich habe als Kind durchaus Gelbbauchunken, Grasfrösche oder Zauneidechsen, zumindest kurzzeitig, im Terrarium beobachtet. Letzteres ist allerdings heutzutage mancherorts im Saarland, wo ich aufgewachsen bin, kaum mehr möglich, auch nicht in dem Wald- und Wiesenbiotop, das an das Grundstück meines Elternhauses grenzte. Die Zauneidechse (Lacerta agilis) ist hier rar geworden. Doch keineswegs aufgrund der Zudringlichkeiten naturbegeisterter Terrarianer. Es ist vielmehr die Mauereidechse (Podarcis muralis), die an ihrer Stelle nun zunehmend häufiger anzutreffen ist, vermutlich begünstigt durch Klimaveränderungen.

Doch nicht allein die durch den Menschen weltweit hervorgerufene Klimaerwärmung bedroht die bestehende Artenvielfalt. Rücksichtslose Bauvorhaben, das Anlegen von Monokulturen zu agrarwirtschaftlichem Nutzen, die Einführung invasiver Arten oder die verantwortungslose Verschmutzung einheimischer Gewässer führen zur Dezimierung der heimischen Artenvielfalt. Natur- und Artenschutz sind dazu da, dem entgegenzuwirken. Doch kann er nicht ernsthaft das Ziel verfolgen, Kinder davon abzuhalten, mit Gummistiefeln, Insektennetz und Einmachglas die Natur zu erkunden.

Dennoch darf terraristisches Bestreben nicht maßlos sein. Daher ist löblich hervorzuheben, dass Interessensgemeinschaften wie die DGHT (Deutsche herpetologische Gesellschaft) strikten Artenschutzbestimmungen folgen. Denn häufig geht das Interesse an Naturbeobachtungen im heimischen Wohnzimmer weit über das Ziel hinaus, nämlich dann, wenn es in Sammelleidenschaft umschlägt. Wer es zur eigenen Profilierung beispielsweise darauf anlegt, möglichst seltene, gar endemische Arten, sein Eigen zu nennen, der bedroht bestehende Tierpopulationen im In- oder Ausland und muss daher in seine Schranken verwiesen werden.

Im Übrigen lassen sich interessante Tierbeobachtungen hinter Glas nicht nur an der heimischen Fauna erleben. Zahlreiche exotische Tierarten, die sich für die Terrarienhaltung eignen, können heutzutage erfolgreich durch Terrarianer nachgezüchtet werden. Sie eignen sich daher gut für eine ökologisch gut vertretbare Haltung in den eigenen vier Wänden. Ob tropische Ameisen oder exotische bunt schillernde Blatthornkäfer,  sie alle eignen sich hervorragend, um lehrreiches und mitunter sehr ungewöhnliches Tierverhalten studieren zu können.

Die Aufwand des Hobbys Naturerkundung lohnt immer, denn je mehr inhaltlich motivierter wissenschaftlicher Nachwuchs hervorgebracht wird, desto größer sind die Chancen, unsere Artenvielfalt auch in Zukunft effektiv schützen zu können. Der britische Astrophysiker Steven Hawking verwies kürzlich in einem Vortrag an der University of Cambridge auf die Fragilität unseres Planeten, auf dem die Menschheit seiner Einschätzung nach die nächsten tausend Jahre nicht überleben wird. Umso wichtiger ist es für kommende Generationen, über ein umfassendes Umweltbewusstsein  zu verfügen. Die Basis hierfür ist ein gutes Bildungsniveau, und hierzu gehören auch aktive Naturerlebnisse, und zwar bereits in der Kindheit.

Ganz allgemein ist das Bildungsniveau Heranwachsender in Deutschland im internationalen Vergleich derzeit schlecht. Gute Lehrer wecken und unterstützen die Wissbegierde ihrer Schüler. Schlechte Lehrer haben selbst nie Wissbegierde gekannt. Sie sind daher für ihren Beruf ungeeignet.

 

 

Copyrights Stefan F. Wirth, November 2016.

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