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Kategorie: USA

Fall aus Rendsburg: Dürfen Schulen ihre Schüler zum Besuch von Kirchen nötigen?

Medienberichten zufolge hat das Amtsgericht Meldorf in Schleswig-Holstein die Eltern eines dreizehn-jährigen Jungen zu einem Bußgeld in Höhe von zwei mal 25 Euro wegen eines vorsätzlichen Verstoßes gegen das Schulgesetz verurteilt. Der verhandelte Fall ereignete sich bereits in 2016: Aufgrund der Befürchtung einer religiösen Indoktrination hatten die Eltern ihrem Sohn die Teilnahme an einer Moschee-Besichtigung, die von der organisiert wurde, untersagt.

Gemäß den Einlassungen des väterlichen Anwalts sei der Besuch der Moschee als Religionsunterricht eingestuft worden, zu dessen Teilnahme keine Verpflichtung bestehe. Die Eltern seien jedoch Atheisten und befürchteten durch den Schulausflug eine religiöse Beeinflussung ihres Sohnes. Darüber hinaus kritisiere man allgemein einen „Umbau“ der Bundesrepublik in eine „multikulturelle Wertegesellschaft“.

Das Gericht folgte diesen Einschätzungen jedoch nicht. Werbung für den Islam habe es nicht gegeben, weswegen der Moschee-Besuch dem Schüler zumutbar gewesen sei. Das Gericht ließ jedoch die Möglichkeit einer Rechtsbeschwerde zu. Es berichteten unter anderem die Kieler Nachrichten.

Die Schule selbst legte dar, dass Religionsunterricht nur dann vorliege, wenn Religionen als „wahr“ dargestellt würden, dies sei aber hier nicht der Fall gewesen.

Spiritualität und Gottesglaube haben menschliche Kulturen seit jeher erheblich beeinflusst. Viele menschliche Errungenschaften stehen im engen Bezug zur Religiosität. Man denke in diesem Zusammenhang beispielsweise an die Architekturgeschichte, und das weltweit und keineswegs nur im europäischen Raum. Generell gilt: Wenn wir eine Kultur verstehen wollen, das betrifft auch längst vergangene Kulturen, ist das Verständnis des spirituellen Lebens von zentraler Bedeutung. Denn in den meisten Kulturen der Welt gibt und gab es keine Unterscheidung zwischen Weltlichkeit und Glaube.

Daher kann der Besuch auch eines aktiven Gotteshauses in unserer Zeit, welcher Religion auch immer zugehörig, eine Bereicherung sein, die das allgemeine Bildungsniveau erhöht. Ich beispielsweise besuche als religionsloser Wissenschaftler und Künstler gerne Kirchen, insbesondere alte und geschichtsträchtige Gebäude. Dabei beeindrucken mich nicht nur die Entwicklung architektonischer Errungenschaften, sondern natürlich auch die der bildenden Kunst. Zudem weisen Gotteshäuser häufig besondere akustische Eigenschaften auf, die jedes Konzert zu einem wahren Erlebnis werden lassen.

Und dennoch stellt sich die Frage, ob es Bürgern im Deutschland des 21. Jahrhunderts frei stehen sollte, ob sie eine Kirche betreten möchten oder nicht. Indoktrinieren aktive Gotteshäuser nun per se, oder tun sie das nicht? Jede aktive Kirche in moderner Zeit ist darauf aus, Gläubige an sich zu binden. Daher konfrontiert eine Kirche immer jeden Besucher mit Ansätzen der Beeinflussung, also der Indoktrination.

Anders als in fast allen vergangenen und der Mehrheit moderner Kulturen sind im modernen Deutschland Glaube und Weltlichkeit strikt voneinander getrennt, auch wenn ich mir nicht sicher bin, ob dies der Kanzlerin bekannt ist. Es ist daher aus meiner Sicht nicht zu vertreten, dass Menschen gegen ihren Willen zum Kirchgang verpflichtet werden. Ein Bildungsdefizit hierdurch ist heutzutage längst nicht mehr gegeben. Die digitale Revolution macht es leicht möglich, Aspekte kirchlicher Kunst oder Architektur auch virtuell in hinreichender Qualität erleben zu können. Daher ist mir die hier vorliegende gerichtliche Entscheidung zur Gänze nicht nachvollziehbar.

Die Welt und unser Bildungsniveau leiden derzeit unter einer ganz neuartigen Welle religiösen Wahns. Der fanatische Islamismus mag eine Ausprägung davon sein, die verschiedenen Facetten ursprünglich christlicher Schöpfungsmythen sind jedoch mit Sicherheit eine andere, und zwar eine nicht unbedingt minder bedrohliche. Vorwiegend aus den USA kommend stellen Kreationismus und Intelligent Design Wissen und Erkenntnisse aus den seriösen Wissenschaften der letzten zweihundert Jahre in Frage. Gläubigen wird so geschickt die Befähigung zur selbstständigen Hinterfragung von Sachverhalten des täglichen Lebens genommen. Das macht Menschen zwar leichter kontrollierbar, der Fortschritt der wissenschaftlichen Forschung jedoch wird erheblich beeinträchtigt.

Dabei müssen spirituelle Glaubensdogmen in heutiger Zeit keineswegs deutlich sichtbar das Etikett einer Religionsgemeinschaft tragen. Ein Beispiel hierfür sind bestimmte Denkansätze des Gender-Mainstreamings, die unter anderem den genetisch und hormonell determinierten Geschlechtsdimorphismus beim Menschen bestreiten. Es handelt sich um Pseudo-Naturwissenschaften, basierend auf Glaubensentwürfen, die derzeit in Deutschland zum Nachteil der echten Naturwissenschaften mit erheblichen Forschungsgeldern ausgestattet werden.

Es ist besonders vor diesem Hintergrund hervorzuheben, dass die Aufgabe unserer Schulen vor allem darin besteht, Wissen und nicht Glauben zu vermitteln, um beispielsweise seriösen wissenschaftlichen Nachwuchs heranzuziehen. Doch diesem Bildungsauftrag kommen deutsche Schulen bereits seit Jahren nicht mehr hinreichend nach. Es hapert bei jungen Studenten mitunter ganz erheblich an jeder grundlegenden Allgemeinbildung, wovon ich mich als universitärer Dozent immer wieder überzeugen konnte.

Gerade in diesem Zusammenhang erscheint mir der hier verhandelte Fall als lächerliche Farce, die aus meiner Sicht die Seriosität deutscher Schulen an sich in Frage stellt.

Das soll allerdings nicht bedeuten, dass ich den Ausführungen der väterlichen Seite bei Gericht folgen möchte, denen zufolge Deutschland sich im Umbau hin zu einer multikulturellen Wertegesellschaft befinde. Als seien multikulturelle, also durch verschiedene Ethnien geprägte Gesellschaften etwas Besonderes. Ohne die permanente Vermischung von Populationen hätte nämlich der moderne Mensch die letzten 300 000 Jahre aufgrund der Notwendigkeit genetischer Vielfalt nicht überleben können.

Berlin, Juli 2018

Copyrights Stefan F. Wirth

 

 

 

The mite Histiostoma blomquisti and creationism in Louisiana/ USA

New Orleans is a dynamic and a very lively city, a city full of freedom and tolerance, a city of life style and of a unique cuisine. A mix-up of ethic groups and cultures, New Orleans, the modern city, a world metropolis.

But this is not Louisiana, it is an island, an exception, New Orleans is not even the capital of this Southern Federal State. The rest of Louisiana is landscape, swamps, wetlands, pine woods, red sand, even a Red River, harmless snakes and a touch of music, not any kind of music, Louisiana is the birthplace of Jazz.

LA is unfortunately also home land of a strict two class society, with the white race in a top position and the native Americans and the blacks on a level much further below. The latter inhabit usually the so called „no go-areas“. That’s where poverty lives, where a permanent existential emergency dominates the daily routine, and yes, where based on all this distress also criminality finds a new home again and again.

It’s a land, where racism is still alive, where colored people take over the minor jobs, while the whites reign over in high positions. A land of injustice, of inconsistency, a land of religious fanaticism.

Nevertheless, beauty can be found everywhere. When the setting sun illuminates the colorful water of the Red river or shines on lying around rusty metal scrap, then a  spectacle of glowing colors blinds the eyes of the audience. When I walked across the fields and forests, then I found an inspiring silence, a flood of harmonic nature impressions, giant millipedes of Polydesmida hiding under freely lying stone chunks, butterflies colonizing rotting fruits and fluttering with a gentle noise in the air, colorful water turtles taking their sun baths around ponds, and under suitable weather conditions I witnessed wedding celebrations of a very special kind: winged ants rose in the air to mate for their first and only time.

The most common ant species is the Red Imported fire Ant, Solenopsis invicta, a fascinating social insect, but far away from being native to Louisiana. It is a so called invasive species, which was transferred to the Southern US via ballast substrate of ships coming from Southern America. The high frequency of ant colonies in Louisiana makes that species to a worthwhile research object, and even especially being an unwelcome invader, which needs to be better understood to successfully be fought.

As most known ant species, also S. invicta is characterized by hosting a remarkable number of non-ant-inhabitants in their nests, for example mites. One mite species attracted a special attention due to its habit to appear in great numbers on winged ant females and rarely also on their males. Nobody was competent to describe it taxonomically, but I was, that’s why I travelled in 2009 to the Southern Research Station of the USDA Forest Service in Pineville, funded by the German DFG (German Research Foundation). I was very friendly and courteously hosted by the 80 years old colleague John C. Moser, who supported my research by providing access to a microscope and preparation equipment. Although he did not participate directly in my taxonomic work, I honored his contributions of ideas and his interest in my work by offering him a co-authorship.

After the species description was already almost finished and the discussion was about the species‘ name, he unexpectedly insisted in the epitheton „blomquisti“, to honor his assistant Stacy Blomquist. Although he surely was depending on her young dynamic power, I was certainly not amused about this choice. Mrs. Blomquist appeared me being too much involved into the kind of spiritual devoutness, which seemed me to be typical for the whole land. But there was no way out, the species was finally named Histiostoma blomquisti Wirth & Moser, 2010. As a consequence, my name would be forever  connected with hers, an immutable fact. But I still have the freedom to emphasize that I until today think that a biological assistant without a high and internationally well known scientific reputation never deserves a species being named after her. I additionally insist in the fact that I unsolicited would never honor somebody I consider a religious activist with my scientific work. Thus I announce herwith my strict distance to Mrs. Blomquist, who accidentally became namesake of my species.

As all Southern US-States, Louisiana is a land dominated by the creationism, being part of the so called bible belt. I was told that the separation between blacks and whites even goes thus far that there exist black and white churches, but I experienced for sure that Chinese inhabitants are priviledged to be considered white, thus visiting the white churches.

Once I was invited to a private video evening. It was organized by a Chinese assistant of the research institute and a white colleague of him, a hobby marathon runner. They presented the 2003 US/ German/ British co-production „Luther“ with Joseph Fiennes in the main role. Directed by the British Eric Till, this very average movie with a Martin Luther, attractive, slim, completely unlike the historical original, fat with a strong penchant for alcohol, was a strange choice for me as a cineaste, but I expected an entertaining popcorn evening with discussions about good and bad movies. But what I then witnessed was very unexpected.

It was so silent that I could hear the air breath, the flies buzzing around, a mysterious expectation filled the room, while my two hosts stared to the screen, awaiting the first appearance of „Martin Luther“ with religious reverence and deistic adoration. I landed in a private divine service, and when Joseph Fiennes appeared for the first time, both raised their arms ecstatically into the air, praising Luther as the great only one. It kept going on like this, no popcorn for me, but very frequent cigarette breaks instead, I fled outside as often as I could.

It is a well known phenomenon that in areas of unjustice worldwide natives tend to protect their own conscience with an unfounded belief to stand under a special supervision by a god. Only a god of immorality and misanthropy claimes to have created the planet and all life on it within six days, only such a god supports the inequality of races and the discrimination of minorities.

Berlin, November 2017

Histiostoma blomquisti on fire ant queens

Copyrights Stefan F. Wirth

 

Die Lust an der Gewalt

Februar 2015, irgendwo in Syrien: der verängstigte Mann klammert sich mit letzter Kraft an die Sitzfläche des Stuhles, von dem aus er in die Tiefe gestoßen werden soll. Dann fällt er, doch niemand kann sicher sagen, ob er überlebt hat oder nicht. Fest steht, dass die unten Wartenden ihn mit Steinen traktieren, als ginge es darum, einen Überlebenden erneut durch das Strafgericht der Scharia in den Tod zu befördern. Ein brutaler Mord im Namen einer Religion.Was der Mann verbrochen hat? Eine Liebschaft soll der um die 50-Jährige gehabt haben, und zwar mit einem anderen Mann. Es gibt also Regionen dieser Welt, in denen Liebe ein todeswürdiges Verbrechen darstellt, ein grausames Paradoxon.

Nicht besser ergeht es den Männern in einem anderen Video, das vor einiger Zeit im Internet kursierte. Mit professionellem Schnitt, perfekter Kameraführung, sogar aus verschiedenen Perspektiven, wird wiederum eine grauenvolle Tat in Szene gesetzt: ein Massenmord. Etwa 20 geduckt laufende Männer in orange-gefärbten Shirts werden von je einem dazugehörigen Täter in einer Schauprozession an mehreren Filmkameras vorbei geführt. Die Inszenierung ist beinahe Hollywood-reif.  Für die Köpfe der Opfer jeweils ein Messer, denn damit enthauptet es sich besonders grausam. So wandert jeder Täter mit seinem Gefangenen an einem Eimer vorbei, der mit kurzen Schneidwerkzeugen angefüllt ist. Die Nahaufnahme zeigt uns deutlich die Gesichter der künftigen Mörder, die mit ritualisierter Geste nach ihren Messern greifen. Sie wirken selbstgerecht. Die Todeswürdigen werden schließlich in einem Halbkreis aufgereiht, und die Kamera lässt uns in ihre versteinerten Gesichter blicken. Der Täter in der Mitte spricht die obligatorische Droh-Botschaft gegen den imperialen Westen in die Kamera. Anders als seine Kumpane ist er komplett in schwarz gekleidet und sein Antlitz verhüllt. Der junge Mann, der vor ihm kniet, sieht aus wie ein Wüstenprinz mit leuchtenden Augen. Er ist der Schönste unter den Opfern. Aus diesem Grunde fährt die Kamera jetzt ganz nah an sein Gesicht heran und verharrt von nun an genau dort. Denn das ist die Erniedrigung, die Strafe, die ihm zugedacht ist. Der intimste Moment im Leben eines Menschen, sein Augenblick des Todes, soll via Videobotschaft vor aller Welt zur Schau gestellt werden. Wie das aussieht, wenn die Gesichtszüge entgleisen und nach all der Qual endlich der Tod eintritt? Ich will das nicht wissen, habe das versehentlich aufgerufene Originalvideo daher rechtzeitig geschlossen.  Schuldig waren die dahin Gemetzelten lediglich eines Vergehens. Sie glaubten an eine andere Auslegung des Islam. Aus prinzipiell demselben Grund wurde auch ein anderer Mann hingerichtet. Die Nachricht hierüber ist erst wenige Tage alt. Er verbrannte in einem Käfig aus Stahl bei lebendigem Leibe. Und auch dieser Todeskampf wurde über das Internet veröffentlicht. Die verstörenden Bilder zeugen von ungezügelter Mordlust.

Warum tun Menschen so etwas? Haben sie ihre Menschlichkeit verloren? Oder ist das, was sie tun, ein Bestandteil dessen, was wir als menschlich bezeichnen?

Grenzenlose Brutalität ist keineswegs eine Erfindung moderner Islamisten. Sie ist fester Bestandteil der gesamten Menschheitsgeschichte. Doch warum inszenieren menschliche Gesellschaften mit ausgesprochener Kreativität immer wieder aufs Neue ihre Morde?

USA 1995, in irgendeinem US- Bundesstaat, der die Todesstrafe mit der Giftspritze praktiziert: Der Mörder und Vergewaltiger ist auf eine Bahre geschnallt worden, die Arme auf beiden Seiten abgespreizt. Die Kanülen sind bereits an beiden Armen angebracht, als man den so Gekreuzigten aufrichtet, so dass er durch die Glasscheibe das Publikum sehen kann. Die Menschen dort sind die Zeugen der Hinrichtung, unter ihnen sitzen aber auch die Eltern der Mordopfer. So zur Schau gestellt spricht der Todgeweihte seine letzten Worte und beendet seine Ansprache mit: „Ich will noch sagen, dass ich Töten für falsch halte, vollkommen egal, wer es tut, obs nun ich oder Sie oder die Regierung macht.“

Dann wird der Mann zurück in die Waagerechte gebracht, in eine Position, von der aus er mit leicht zur Seite gedrehtem Kopf noch die Zuschauer erkennen kann, und es wird ihm die tödliche Giftinjektion verabreicht. Während er nun stirbt, kann seine Seelsorgerin, die im Publikum sitzt, ihre Tränen nicht länger zurückhalten.

Für ihre Rolle als Ordensschwester erhielt Susan Sarandon 1996 den Oscar. Sean Penn stirbt als Täter dennoch einen Tod, der die eigenen Verbrechen an Perversion übertrifft. In einem gläsernen Käfig vor Zuschauern.

Die Realität ist in den USA heute jedoch weitaus brutaler: Da europäische Hersteller von Medikamenten die Auslieferung an die Vereinigten Staaten zur Umsetzung der Todesstrafe verweigern, wird bei den Exekutionen neuerdings mit unerprobten Chemikalien experimentiert. In der Folge sterben 2014 mehrere Delinquenten einen langen und qualvollen Tod.

Erfüllt es mit Genugtuung, Menschen dabei zuzusehen, wie sie ihr Leben verlieren? Werden künftige Täter abgeschreckt, wenn sie solch grauenvolle Spektakel mit verfolgen müssen? Oder geht es um Grenzerfahrungen? Lust, Gewalt zu erleben, die Tabuüberschreitung als Nervenkitzel?

Die Welt ist voller Beispiele für gnadenlose Massaker, von Menschen an Menschen begangen.

Wir schreiben den 6. Januar 1536 und befinden uns mitten in Deutschland, genauer in der westfälischen Stadt Münster. Drei Männer werden auf dem Prinzipalmarkt unter der Anteilnahme einer gewaltigen Zuschauerschar schrittweise zu Tode gefoltert. Die insgesamt etwa vier Stunden andauernde Prozedur zu Füßen der Lambertikirche bestraft die Anführer einer extremistischen religiösen Gruppierung, die sich als Wiedertäufer bezeichnen. Einst waren Jan van Leiden, Bernd Knipperdolling und Bernd Krechting selbst zu Tätern geworden, hatten Münster besetzt und ein gnadenloses Regime des Grauens angeführt, in religiösem Wahn jeden Widerstand mit mörderischer Gewalt niedergestreckt. Nun waren der Mann, der sich „König“ nannte, und seine Komplizen selbst an der Reihe. Zunächst wurden ihnen mit glühenden Zangen die Zungen herausgerissen. Danach band man sie an Pfählen fest, weitgehend nackt, und zerfetzte ihre Körper bei lebendigem Leibe mithilfe derselben rot glühenden Greifwerkzeuge. Erst Stunden später wurden sie der Gnade halber erdolcht. Ihre geschundenen Leiber hat man in eisernen Körben an der nahegelegenen Kirche hochgezogen, wo sie der öffentlichen Schande und dem Vogelfraß auf Dauer preisgegeben waren. Noch heute hängen übrigens die inzwischen renovierten Körbe als makabre Touristenattraktion am Turm von St. Lamberti.

Doch durch die drakonischen Schauprozesse aus vergangenen Jahrhunderten hat Deutschland den Höhepunkt seines sadistischen Wirkens noch lange nicht erreicht. Nicht einmal hundert Jahre ist es her, dass Nazi-Deutschland effiziente Tötungsmaschinerien in Gang brachte, und zwar mit dem Ziel der Massenvernichtung. Homosexuelle, Kommunisten, Juden sowie Angehörige der Sinti und Roma waren als nicht lebenswerte Störfaktoren eingestuft worden, die daher millionenfach den Tod fanden. Ihre Körper waren nicht einmal nach dem Tode sicher vor den pervertierten Nachstellungen durch die Nationalsozialisten, denen es um weit mehr als eine ethnische Säuberung der eigenen Gesellschaft ging. Ziel war es, die Anhänger aller unerwünschten Ethnien, sexuellen Orientierungen oder politischen Ideale öffentlich zu erniedrigen, sie für ihre Andersartigkeit zu bestrafen. Toten wurden in den Konzentrationslagern der Nazis die Haare zur Weiterverarbeitung abgeschnitten. Filze und Stoffe sollten daraus entstehen. In der Gedenkstätte des Konzentrationslagers Ausschwitz sind Tonnen von ihnen noch immer zu sehen. Doch auch die Haut der Verstorbenen diente der Herstellung makaberer Accessoires. Regenschirme, Lampenumhüllungen oder Tischdecken wurden aus ihnen gemacht. Wer hingegen eine Weile die Lagerhaft überstand, jedoch ein besonders schönes Tatoo sein Eigen nennen durfte, lebte eventuell ganz besonders gefährlich. So wurde der Fall eines polnischen KZ-Häftlings in Ausschwitz bekannt, dessen beeindruckende Rücken-Tätowierung mit dem farbigen Motiv des biblischen Paradieses eine Begehrlichkeit des Lagerarztes Friedrich Entress erweckte. Nachdem der ebenfalls politische Häftling und Fotograf Wilhelm Brasse die Tätowierung des muskulösen Schiffsheizers Zielinski in Form mehrerer Bild-Serien dokumentiert hatte, wurde dieser kaltblütig ermordet. Entress hatte das Tatoo herausschneiden und zu einem Bucheinband verarbeiten lassen.

Nicht nur die Neuzeit, sondern auch die Antike strotzt nur so vor Brutalität und Sadismen. So berichtet Tacitus von den Schrecken des Jahres 64, in dem der römische Kaiser Nero Claudius Caesar Augustus Germanicus nach einem Großbrand in Rom frühe Christen der Brandlegung bezichtigte und sie dafür drakonisch öffentlich bestrafte. Manche von ihnen wurden gekreuzigt oder in einer Circus-Vorführung lebendig an wilde Tiere verfüttert, andere hingegen mussten Schlimmeres erdulden. In Tierhäute eingenäht erhellten sie bei Nacht die Neronischen Parkanlagen als lebende Fackeln.

Besondere Grausamkeit ist jedoch keineswegs eine Erfindung der Antike. Denn folgen wir der Zeitskala dort beginnend wieder in die frühe Neuzeit hinein, diesmal nach England, werden wir im Elisabethanischen Zeitalter, also der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts, mit einer besonders bestialischen Hinrichtungsmethode konfrontiert. Das „Hanged, drawn and quartered“ war als besonders entehrende öffentliche Bestrafung nur Hochverrätern vorbehalten. Der Verurteilte wurde auf einem Gatter befestigt zur Hinrichtungsstätte gezogen, anschließend gehängt, jedoch noch vor Eintritt des Todes wieder vom Galgen gelöst und daraufhin auf einer Bahre fixiert. Dort trennte man ihm zunächst die Genitalien ab und zeigte sie nun zuerst dem Opfer und dann der Zuschauermenge. Hernach eröffnete man den Bauch und entnehm dort Stück für Stück Teile des Darms, die wiederum der Begutachtung durch den Verurteilten und die Zuschauer preisgegeben wurden. Schließlich verbrannte man die Organe noch vor den Augen des Opfers, das die folgenden Schritte der Prozedur vermutlich nicht mehr lebendig erdulden musste. Denn es wurde nun das Herz entfernt und als letztes Organ dem Feuer übergeben. Erst daraufhin köpfte man den Unglücklichen, vierteilte seinen Körper und stellte die sterblichen Überreste  an unterschiedlichen und exponierten Orten der Stadt zur Abschreckung auf.

Jede mittelalterliche Tierschlachtung war humaner. Warum nur ergötzen sich Menschen immer wieder am physischen Leid ihrer Artgenossen? Woher kommt die Kreativität, mit der das öffentliche Morden inszeniert wird? Sind die Köpfe, die das zelebrierte Leiden ersonnen haben, pathologische Ausnahmeerscheinungen?

Hinweise liefern vielleicht die Geschehnisse, die sich in den letzten dreizehn Jahren in einem berühmten Gefangenenlager auf Kuba zugetragen haben. Das Gefängnis Guantanamo, das dem US-Militärstützpunkt Guantanamo Bay Naval Base angehört, ist längst zu trauriger Bekanntheit gelangt und hat Menschenrechtler weltweit entsetzt.

Jede bekannte Form der Folter, die nicht unmittelbar zum Tode führt, scheint in dem berüchtigten Gefängnis zur Anwendung gelangt zu sein. Besonders hervorzuheben ist jedoch, dass die Insassen insbesondere solche Torturen erleiden mussten, für die es gar keine historischen Vorbilder gab. Die Foltermethoden schienen frei erfunden, der Kreativität des Gefängnispersonals waren offenbar keine Grenzen gesetzt.  Nicht Aussage-Willige wurden in Kältekammern verbracht, mit der Waterboarding-Folter gequält, mit Stromschlägen traktiert, zu sexuellen Handlungen gezwungen oder auf alle erdenkliche Weise nackt gedemütigt. Übertroffen werden die Taten in Guantanamo lediglich noch durch ein weiteres US-Gefangenenlager, nämlich jenes im irakischen Abu Ghraib, westlich von Bagdad gelegen. Auch hier werden angebliche Terroristen mit islamistischem Hintergrund festgehalten. Das Gefängnis, das schon zu Regierungszeiten Saddam Husseins für unmenschliche Zustände bekannt war, wurde jedoch erst durch die Machenschaften US-amerikanischer Gefangenenaufseher weltberühmt. Das Foto eines Folteropfers mit schwarzer Kapuze über dem Gesicht, den Körper nur durch einen weiten Umhang bedeckt, das mit abgespreizten Armen dauerhaft auf einer Kiste stehen muss, wurde zum Inbegriff der US-Willkür an muslimischen Gefangenen. Doch Elektroschocks waren nur eine von vielen Methoden, um zu foltern. Viehische Zurschaustellung in nackten Posen gehörte mindestens genauso zum Standardrepertoire der Folterknechte. Als die Fotos der Folteropfer in den Medien erschienen, entrüstete sich die Welt. Den USA blieb also nichts übrig, als die Täter öffentlich anzuklagen. Doch was hat all das bewirkt? Beide Gefangenenlager existieren noch, und über die heutigen Bedingungen dort ist kaum etwas bekannt.

Die Geschehnisse in beiden Gefangenenlagern weisen Parallelen auf. Beide sind sie US-amerikanische Sützpunkte im Ausland. Sie befinden sich weit entfernt von der rechtstaatlichen Kontrolle durch die USA. Die Bediensteten müssen zunehmend das Gefühl der Narrenfreiheit empfinden. Niemand maßregelt sie für ihre immer häufigeren Willkür-Eskapaden. Es gibt keine nennenswerte Kontrolle von oben, und von unten kommt keine Kritik, kein Widerstand. Denn die Gefangenen sind wehrlos, vollständig unterworfen. Die perfekten Opfer für sadistische Entgleißungen.

Menschen können im Affekt zu wilden Tieren werden, sich geradezu in wütende Ekstase versetzen, um so ihre Opfer in einem kurzen Moment fehlender Steuerung mit ungezügelter Gewalt zu überziehen. Die in diesem Artikel erläuterten Beispiele sind jedoch auf andere Bedingungen zurückzuführen. Durchdachter Mord, geplante Folter, häufig gebunden an eine Logistik, die mehrere Mittäter erfordert, so sehen wahrlich keine Affekthandlungen aus. Minuziöse Planung einer Tat erfordert weit mehr als einen kurzen Ausraster. Es geht hier nicht um unkontrollierbare Überlebensinstinkte, sondern um sadistische Lust, die den betroffenen Menschen dazu motiviert, vorsätzliche Entscheidungen zu fällen. Zwar ist die Empfindung lustvoller Begierde zunächst ein Instinkt, der durch das untergeordnete und evolutionsbiologisch alte Zwischenhirn gesteuert wird, und doch handelt es sich bei der sadistischen Neigung um weit komplexere neuronale Zusammenhänge. Sie dienen dazu, eine instinktive Lust in ein dauerhaftes Begehren zu verwandeln,  das durch zielgerichtete Planung in die Tat umgesetzt werden kann.

Das Potential, eine sadistische Neigung zu entwickeln, ist dabei offenbar natürlicher Bestandteil des Menschseins, verankert in unserem millionen Jahre alten Genom. So sind vermutlich die meisten Menschen grundsätzlich zu sadistischer Grausamkeit befähigt, allerdings nur unter geeigneten Rahmenbedingungen. Weitgehende Isolation, mehr oder weniger unbeschränkte Machtbefugnisse und das Vorhandensein untergebener und vollständig ausgelieferter Mitmenschen scheinen wichtige Voraussetzungen zu sein, um einen Sadismus auszubilden.

Der Psychoanalytiker Erich Fromm erkannte 1973 den Sadismus als ein Verlangen, einem anderen Menschen so nahe wie möglich zu kommen, und wenn schon nicht durch Liebe und Zärtlichkeit, dann doch in Form der Gewaltausübung. Ein Zusammenhang also, den man durchaus als unterschwellig sexuell motiviert bezeichnen muss.

Der explizit sexuelle Sadismus hingegen verbindet eine erotische Erektion mit dem Anblick der erniedrigenden Qual, die das Gegenüber erleiden muss. Als Sonderform ist dabei der Kompensatorische Sadismus hervorzuheben, in dem das Gefühl der sexuellen Befriedigung ganz allein durch die Grausamkeit des Gewaltaktes erzeugt wird. Konkrete erotische Handlungen unterbleiben hier also vollständig.

Diese Form des Sadismus scheint vor allem dort Triebfeder zu sein, wo Menschen besonders ungewöhnlicher Grausamkeit ausgesetzt werden. Ein anschauliches Beispiel hierfür ist womöglich die Motivation der Henker zur Umsetzung der historischen Hinrichtungsart „Hanged, drawn and quartered“.

Die neurologischen und gesellschaftlichen Zusammenhänge, die erklären, warum organisierte und sadistische Gewalt, durch Menschen an ihren Mitmenschen begangen, immer wieder die Oberhand gewinnt, sind zu komplex, um hier angemessen erörtert zu werden.

Scheinbar kann man zumindest Folgendes festhalten: Der Intellekt kann triebhafte Lust nach Gewalt effizient unterdrücken. Umfassende Erziehung, von Kindesbeinen an, führt zu einem hohen Bildungshorizont und stimuliert dadurch intellektuelle Fähigkeiten, die sich mit zunehmender Lebenserfahrung sogar noch ausweiten. Die Ausübung sinnloser Gewalt und ein hohes Bildungsniveau schließen einander meist aus. Investiert also nicht in kriegerische Auseinandersetzungen, sondern in die Verbesserung der weltweiten Bildungsstandards!

Es ist nocheinmal hervorzuheben, dass sich dieser Artikel nicht mit schwersten pathologischen Ausnahmeerscheinungen befasst, sondern das Potential völlig normaler Menschen erörtert, unter Einwirkung bestimmter Gegebenheiten brutale und sadistische Züge zu entwickeln.

 

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