Der Aufstand der Sioux

Der Begriff der Menschlichkeit wird oft falsch verwendet oder beschönigt. Sich um Mitmenschen zu sorgen und ihnen Gutes zuzufügen gilt ja ja üblicher Weise als „menschliches Handeln“. Doch aus biologischer Sicht scheint auch das Gegenteil menschlich, also typisch für unsere Art, zu sein, nämlich Schwächere zu unterdrücken und auszubeuten oder selbst unterdrückt und ausgebeutet zu werden. Macht durch Menschen über andere Menschen ist eine instinktive Leit-Motivation des Homo sapiens. Es handelt sich dabei um vorwiegend genetisch fixierte Verhaltensstrategien, die daher offenbar nicht weitgehend beeinflussbar sind durch Aspekte wie die Bewegung der Aufklärung, die Globalisierung oder die zunehmende Technisierung. Der Mensch kann von diesem Verhaltensdrang auch in der Moderne und dem vergleichsweise weltweit hohen Bildungsniveau nicht ablassen.

Die Scheußlichkeiten der Geschichte wiederholen sich immer wieder aufs Neue, weil der Mensch seinen Erfahrungen und Errungenschaften zum Trotz in wesentlichen Zügen ein Savannenbewohner mit urtümlichen Gesellschaftsstrategien geblieben ist. Daran ändert sich auch nichts, wenn man kein Anhänger der reinen Savannen-Theorie ist, sondern davon ausgeht, dass die Evolution früher Hominiden in sehr enger Beziehung zu afrikanischen Gewässern vonstatten gegangen sein muss. Es galt damals wie heute, in der Nachbarsippe einen Konkurrenten zu sehen und zum eigenen Vorteil nach dessen Besitz zu trachten. Das prähistorische Prinzip hat sich auch in der Neuzeit nicht verändert. Und wenn doch, dann sogar ins Nachteilige, denn die Bevölkerungsdichte ist weltweit explodiert, so dass nun der Neid um die Ressourcen des Nachbarn gravierendere Dimensionen erreichen konnte. Die technischen Errungenschaften für effizientere Kriegsführungen erlaubten es dabei schon vor Jahrhunderten, nicht mehr nur einzelne Sippschaften, sondern gleich ganze Völker gezielt auszurotten, um so an gewichtigere Ressourcen zu gelangen.

Ein trauriges Beispiel hierfür ist der Überfall durch europäische Kolonialmächte auf den amerikanischen Kontinent. Dabei traf es die indianischen Völker auf dem Nordkontinent besonders hart. Man wollte, anders als in Südamerika, keine Sklaven, die unter Zwang und zugunsten der Eroberer ihr eigenes Land bewirtschaften mussten. Nein, nicht die Früchte, die das Land abwerfen konnte, stellten das Ziel der Begehrlichkeiten dar, sondern das Land selbst. Und dies ließ sich nur durch die umfassende Vernichtung der Ureinwohner erreichen.

Doch nicht alle Indianerstämme Nordamerikas konnten restlos ausgelöscht werden. Daher wurden überlebende Sippen in Reservationen gezwungen, wodurch sich naturgemäß immer wieder Auseinandersetzungen zwischen den weißen Eroberern und den in umzäunten Ländereien eingepferchten Ureinwohnern ergaben. Ort der Austragung empfindlicher Kampfhandlungen im Verlaufe des 19. Jahrhunderts waren die Bundesstaaten South-Dakota und Montana im Nordwesten der USA. So mussten die Sioux 1890 ein blutiges Massaker nahe der Ortschaft Wounded Knee im Areal der heutigen Pine Ridge Reservation über sich ergehen lassen. Das Gemetzel gilt als letzter Höhepunkt der so genannten Indianerkriege, die den langen Zeitraum zwischen 1620 und 1890 überschatteten. Maßgeblich verantwortlich für die Bluttat am Wounded Knee zeichnete sich der US-Colonel James William Forsyth (1834-1906), der den Auftrag der US-Regierung verfolgte, Sioux-Indianer um die bekannten Häuptlinge Spotted Elk und Sitting Bull in ein Militärlager in Nebraska zu eskortieren.

Die US-Regierung fürchtete nämlich zunehmend den indianischen Widerstand, der bereits 1876 eskaliert war und in der Schlacht am Little Bighorn hunderte Soldaten des 7. Kavallerie-Regiments unter George Armstrong Custer (1839-1876) das Leben kostete. Zwar lag dies bei den Geschehnissen am Wounded Knee schon lange zurück, doch inzwischen war eine neue spirituelle Strömung in den Indianer-Lagern aufgekommen, die starke Ängste seitens der US-Regierung schürte. Der Geistertanz des Wovoka, eines bedeutenden Propheten der Paviotso-Paiute-Indianer, war nichts anderes als eine Bemühung, indianisches Kulturgut mit der christlichen Religion des weißen Mannes in Harmonie zu bringen, um dadurch ein friedlicheres Miteinander zu ermöglichen. Doch die zunehmende Verbreitung des Friedens-Tanzes wurde durch die US-Regierung als Drohung missverstanden.

Die daher angeordnete Überführung der vermeintlich Aufsässigen nach Nebraska kam jedoch nicht mehr zustande. Leibesvisitationen an den zu Unrecht Verdächtigten führten zu einem Unglücksfall. Als nämlich der wehrhafte Medizinmann Yellowbird einen Geistertanz andeutete und Black Coyote die Herausgabe seiner Winchester verweigerte, kam es zu einem Handgemenge, in dessen Verlauf sich ein Schuss löste. In der Folge erschoss das anwesende US-Militär gnadenlos über 300 Männer, Frauen und Kinder.

Dies alles liegt nun fast 120 Jahre zurück. Und die Zeiten scheinen sich geändert zu haben. Begriffe wie Moral und Menschenrechte nehmen zumindest formell einen hohen Stellenwert in modernen westlichen Gesellschaften ein. Und doch gehören die heutigen Nachfahren Sitting Bulls keineswegs zu den Begünstigten moderner Wertevorstellungen. Damit ergeht es ihnen zumindest nicht anders als der schwarzen US-Bevölkerung, die den Bemühungen Martin Luther Kings (1929-1968) zum Trotz noch immer Opfer von Rassismus und Polizeigewalt wird.

Derzeit versammeln sich entlang des Cannonball River in einem der größten Indianer-Reservate innerhalb der USA zunehmend zahlreiche Sympathisanten des Sioux-Häuptlings Dave Archambault II, um mit ihm gegen Pläne des Bundesstaates North-Dakota und des United States army Corps of Engineers zu protestieren. Stein des Anstoßes ist eine Ölpipeline, die sich über eine Strecke von fast 2000 Kilometern aus dem westlichen North-Dakota kommend bis in den Bundesstaat Illinois im mittleren Westen erstrecken soll. Die geplante Konstruktion sieht vor, dass täglich beeindruckende 470000 Barrel Öl verschickt werden können. Ein in wirtschaftlicher Hinsicht ohne Zweifel lukratives Unternehmen, gäbe es nicht gleich zwei Leidtragende, nämlich die indianische Bevölkerung und die intakte Natur. Wie schon vor zweihundert Jahren gelten die Ureinwohner des Landes offenbar auch heute nicht allzu viel.

Denn die Pipeline soll nicht irgendwo verlaufen, sondern durch indianisches Gebiet. Die Bauarbeiten würden das geschichtsträchtige Land der Sioux verschandeln, denen man ohnehin wahrlich nicht viel aus ihrer Vergangenheit übrig gelassen hat. Noch schlimmer wiegt jedoch die Tatsache, dass die Indianer in keiner Weise in die Entscheidungsfindung mit einbezogen worden sind. Das durch die Landesregierung im Schnellverfahren gebilligte Projekt soll auf dem Rücken der eigentlichen Landbesitzer, nämlich der Sioux, ausgetragen werden, die sich hiergegen entschieden zur Wehr setzen, durch Demonstrationen und in Form offizieller Genehmigungsverfahren.

Denn es geht keineswegs „nur“ um den Erhalt der ehrwürdigen Gräber und Kultstätten. Auch ihre Gesundheit sehen die Ureinwohner Dakotas durch den Bau der Ölleitung in Gefahr. Da die Pipeline in der Tiefe unterhalb der Flüsse verlaufen soll, wird eine Verschmutzung des natürlichen Trinkwassers befürchtet. Mindestens genauso schwerwiegend sind jedoch die Folgen für das Gleichgewicht der Natur. Artensterben könnten die Folge sein und die Sioux ihrer traditionellen Nahrungsgrundlage berauben.

Doch wo der Dollar regiert, bleiben Gewissen und Vernunft nur allzu häufig auf der Strecke. Archambault II bemüht in Interviews daher zurecht Vergleiche mit der Zeit der Indianerkriege. Jack Dalrymple, der Gouverneuer von North-Dakota ist und als ein Berater des US-Präsidentschaftskandidaten Donald Trump gilt, vergleicht er gar mit einem General Custer der Moderne.

Doch wie reagiert die Regierung North-Dakotas auf die Bemühungen der Sioux? Mit Gesprächsbereitschaft und einem offenen Ohr, einem schlechten Gewissen womöglich sogar? Weit gefehlt, stattdessen mit blanker Polizeigewalt, denn unter dem Vorwand, womöglich Rohrbomben herstellen zu wollen, ist der couragierte Häuptling mitsamt über zwanzig Mitstreitern kurzerhand verhaftet worden. Die vorgeblichen Bomben waren in Wahrheit nichts anderes als Indianerpfeifen, die rituellen Zwecken dienten. Die Gefangenen sind daher offenbar wieder auf freiem Fuß, und somit dazu imstande, den Kampf um das Erbe ihrer Vorfahren und um ihre längst überfällige gesellschaftliche Akzeptanz fortzuführen.

In einer westlichen Welt, in der Political Correctness als Zeichen guter Erziehung gilt, in der jedes Unternehmen mindestens zehn Frauenbeauftragte beschäftigt und in der diskutiert wird, ob jeder Mensch sein Geschlecht willkürlich festlegen kann oder nicht, in einer Welt, in der die christliche Kirche Nächstenliebe predigt, damit aber die Diskriminierung anderer Kulturkreise meint, in einer Welt, in der Hollywood zuhause ist, die aber ihre indianische Urbevölkerung wie vor zweihundert Jahren ausgrenzt und übergeht, in einer solchen Welt stimmt etwas nicht!

 

Copyrights Stefan F. Wirth,

Berlin 29.08.2016