Das Geheimnis der Bernstein-Tierchen

Image    Stefan F. Wirth betreibt Forschung in den Bereichen Zoologie, Acarologie, Evolutionsbiologie und Ökologie in Kooperation mit verschiedenen internationalen Instituten. Sein Forschungsschwerpunkt sind Milben, die an Insekten und andere Arthropoden gebunden sind. Außerdem doziert er an der FU Berlin zur Biologie der Insekten und Milben sowie zu evolutionsbiologischen und ökologischen Themen. 

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DAS GEHEIMNIS DER BERNSTEIN-TIERCHEN

Bernsteine stammen aus längst vergangenen Zeitaltern. Manchmal sind in diesen Steinen winzige Tiere eingeschlossen, Milben oder kleinste Spinnen beispielsweise. Noch steht die Erforschung dieser Wesen am Anfang. Doch sie verspricht spannende Erkenntnisse über die Frühzeit des Lebens. Von Stefan F. Wirth .

Fast jeder kennt die orange-gelb schimmernden und häufig durchsichtigen Steine und hat womöglich schon Museums-Stücke bewundert, die manchmal im Innern winzige Tierchen beinhalten – wie im Foto links: eine Spinne. Bernstein ist ein ungemein ästhetisch anmutendes Gestein. Nicht umsonst gilt das legendäre Bernsteinzimmer des Preußenkönigs Friedrich I. als  „achtes Weltwunder“.

Bernstein ist dabei nur der Sammelbegriff für vorzeitliches Baumharz, das die Jahrmillionen überdauerte. Im Detail gibt es unterschiedliche Sorten aus verschiedenen Zeitaltern, die sich im chemischen Aufbau voneinander unterscheiden.

Doch welchen Nutzen hat Bernstein für die Forschung? Warum sind mikroskopisch kleine Milben darin zum Beispiel interessante Studienobjekte, und warum ist davon auszugehen, dass manche Tier- und Pflanzenarten, die gemeinsam im Bernstein eingeschlossen wurden, sich dort nicht zufällig begegnet sind, sondern vielmehr üblicherweise gemeinschaftlich auftreten?

Die Frage lässt sich zunächst allgemein beantworten: Fossilien, um die es sich ja auch im Falle der Bernstein-Organismen handelt, gewinnen häufig durch den Vergleich mit heutigen Lebewesen erst an wissenschaftlicher Aussagekraft.

Finden wir zunächst also scheinbar nichts weiter als eine Hummel, eine Ameise, einen Käfer oder eine Spinne im Bernstein erhalten, dann stellt sich bei genauem Hinsehen heraus, dass diese Tiere selten allein sind. Winzige Organismen sitzen auf ihnen drauf. Sind das natürliche Bedingungen oder Zufälle?

Blinde Passagiere, Mitflieger und Reisegesellschaften

An Fossilien kann man das manchmal nicht mit Sicherheit beantworten. Untersucht man jedoch noch heute lebende Gliedertiere, wird man feststellen, dass es tatsächlich „Mitreisende“ gibt. Und die kann man mitunter sogar leicht mit dem Transport-Tier zusammen züchten und die Zusammenhänge derartiger Bindungen zueinander im Detail studieren. Erst wenn solche Erkenntnisse aus der heutigen Welt der Tiere vorliegen, können Wissenschaftler Fossilien hinreichend verstehen und im richtigen Kontext interpretieren.

Tatsächlich zeigen Vergleiche mit heutigen Organismen, dass die oben genannten Tiere regelmäßig Mitläufer oder Mitflieger an sich tragen. Man kann sogar sagen: Das Insekt oder die Spinne wird zum Lebensraum, einem Mini-Ökosystem, obwohl manche dieser blinden Passagiere eher an ruhende Taxi-Passagiere erinnern und weniger an aktive Lebewesen.

Ökosysteme sind für Biologen interessante Forschungsobjekte. Darunter versteht man meist die Gemeinschaft verschiedener Arten, die in einer Wechselwirkung mit ihrer (unbelebten) Umwelt stehen. Manchmal finden sich sogar Hinweise auf eine gemeinsam verlaufene Evolutionsgeschichte der verschiedenen Organismen, die zu solch einer Artengemeinschaft gehören, zum Beispiel der auf einem Insekt. Das Phänomen, in dem nicht näher miteinander verwandte Organismen sich schrittweise durch Evolution aufeinander spezialisiert haben, bezeichnet man als Koevolution.

Man kennt solche Hinweise auf parallel verlaufene Evolutionen zum Beispiel von Blütenpflanzen und einigen sie bestäubenden Insekten. Wie man eine solche Koevolution überhaupt nachweisen kann?

Hierzu müssen die Evolutionsbiologen Stammbäume rekonstruieren und nachprüfen, ob die der betroffenen Organismen an entsprechenden Stellen ein ähnliches Verzweigungsmuster aufweisen.

Im Zusammenhang mit Insekten und anderen Gliedertieren sind parasitische „blinde Passagiere“ bekannt, die es häufig auf das Blut ihrer Wirte abgesehen haben. Aber auch solche „Mitreisenden“ kennt man, die nur transportiert werden wollen, weil sie zu klein und zu langsam sind, um neue Lebensräume selbstständig erreichen zu können. Manche der Parasiten und auch einige dieser neutralen „Mitreisenden“ haben offenbar einen langen Abschnitt ihrer Evolution in Wechselwirkung mit der ihres Insektes durchlaufen. In vielen anderen Fällen ist die Forschung noch immer gefordert, diese Zusammenhänge zu klären.

In Bernstein eingeschlossen: Farne, Moose, Flechten und kleine Wirbeltiere

In meiner Forschung sind besonders solche Milben dankbare Studienobjekte, die sich bei einer Größe von weniger als einem halben Millimeter mit komplizierten Saugnäpfen auf Insekten und anderen Tieren festheften, um so transportiert zu werden – (das unten stehende Foto zeigt die Milbe bei lichtmikroskopischer Vergrößerung).

Es handelt sich dabei nicht um Parasiten, sondern vielmehr um neutrale „Mitflieger“. Häufig werden nämlich fliegende Insekten von Milben als Transportmittel bevorzugt, denen im Übrigen trotz mitunter recht zahlreichen Passagieren kein bemerkbarer Schaden entsteht.

Derlei „Reisegesellschaften“ gab es bereits in längst vergangenen Zeitperioden unserer Erde. Sie sind bislang aber sehr unzureichend untersucht worden. Besonders ergiebig für die Milbensuche ist Baltischer Bernstein, der wissenschaftlich übrigens als „Succinit“ bezeichnet wird. Bernsteineinschlüsse werden der Forschung noch Überraschende Erkenntnisse liefern.

Doch was hat es mit diesem Gestein auf sich? Bernstein mit Einschlüssen konnte sich bilden, indem Organismen wie Moose, Farne, Flechten, kleine Wirbeltiere und insektenartige Gliedertiere zufällig in das noch flüssige Baumharz von Nadelbäumen gelangten, wo sie festklebten und vollständig umschlossen wurden. Nach dem Erhärten des Harzes, das die eingeschlossenen Organismen nun luftdicht eingebettet vor bakterieller Zersetzung bewahrte, sorgten chemische Veränderungen dafür, dass aus dem Baumharz-Brocken Schritt für Schritt Bernstein wurde, wie wir ihn heute kennen.

Was simpel klingt, konnte im Detail noch nicht durch die Wissenschaft erklärt werden. So ist zum Beispiel nichts über den Artenreichtum Succinit-bildender Bernstein-Baumarten bekannt. Stittig ist auch, welche Verwandten der Bernsteinbäume es unter den heutigen Nadelholz-Gruppen gibt.

Nicht mehr bezweifelt wird indes, dass die Bernstein-Bäume ungewöhnliche Eigenschaften hatte: Sie besaßen ein besonders schnell aushärtendes Harz, wie wir es bei modernen Nadelbäumen in dieser Ausprägung nicht finden können. Es gibt klare Hinweise, die belegen, dass es bereits am lebenden Baum zu seiner endgültigen Gestalt erstarrt sein muss. Nur so ist zu erklären, dass die tierischen und pflanzlichen Einschlüsse unversehrt in ihrer ursprünglichen Form erhalten bleiben konnten, ohne dass es durch den späteren Druck beim Einlagern in die Erde zu Verformungen kam. Deformationen kennen wir von Fossilien aus Schieferlagerstätten nur zu gut.

Baltische Bernsteine sind etwa 30 bis 50 Millionen Jahre alt und entstammen einer Region, bestehend aus der heutigen Ostsee und der skandinavischen Halbinsel, die einst mit ausgedehnten Wäldern bedeckt war.

Erforschung einer weitgehend unbekannten Mikrowelt

Obwohl Bernstein in unterschiedlicher chemischer Zusammensetzung und auch aus verschiedenen Zeitepochen erhalten ist, erweist sich der Baltische Bernstein als besonders zahlreich mit darin eingeschlossenen Organismen versehen. Dies ist jedoch vor allem auf seine Fundhäufigkeit und die damit einhergehende bessere wissenschaftliche Bearbeitung zurückzuführen.

Vertreter von Insekten, aber auch Asseln als Repräsentanten der Krebse, Hundertfüßer und Spinnentiere sind in all ihren mikroskopisch kleinen Strukturen so wunderbar erhalten, dass man glauben könnte, sie seien erst gestern verstorben.

Die Mikrowelt aus Milben und Insekten, Spinnen oder Tausendfüßern im Bernstein ist nur unzureichend erforscht und wenn überhaupt, dann nur lückenhaft dargestellt, was oft vor allem auf technische Beschränkungen zurückzuführen ist. Denn wie soll man eine Milbe aussagekräftig sichtbar machen, die weniger als einen halben Millimeter groß ist? Selbst hoch auflösende Lichtmikroskope sind überfordert, zumindest solange der Anspruch erhoben wird, den Bernstein nicht zu beschädigen. Denn dies wird häufig von den Museen oder Sammlungsbesitzern nicht gestattet.

In dieser Situation befand sich auch die Bernstein-Milbe, die ich zusammen mit einem Kollegen des Museums für Naturkunde in Berlin und weiteren Wissenschaftlern aus Manchester untersuchte. Das nur etwa 176 µm lange Tier, ein Jugendstadium, das als „Deutonymphe“ bezeichnet wird, sitzt festgesaugt auf dem Vorderkörper einer ausgestorbenen Sechsaugenspinne (eine bedrohlich aussehende Webspinnen-Gruppe, die auch heute noch vorkommt), bei der es sich um genauso ein Original handelt, das als Vorlage für die neue Beschreibung dieser Spinnenart diente. Daher durfte das Bernsteinstück nicht zerschnitten werden, um beispielsweise mikroskopisch dünne Schliffe für die Untersuchung mithilfe normaler Lichtmikroskope anzufertigen.

Um die winzige Milbe, die aus der recht großen Gruppe der so genannten „astigmaten Milben“ stammt, dennoch dreidimensional sichtbar machen zu können, entschlossen wir uns, die Computertomographie einzusetzen. Ein eventuell wegweisendes und ungewöhnliches Unterfangen!

Unserer Kenntnis nach haben wir in unserer Publikation aus dem Jahre 2011 weltweit erstmalig ein Tier dieser winzigen Größe (176 µm) mithilfe der einfachen Mikro-CT  dreidimensional und in sehr guter Auflösung darstellen können.

Wir wissen jetzt: Schon vor Millionen von Jahren gab es „Taxis“

Unser Erkenntnisgewinn: Es handelt sich scheinbar um den ältesten bekannten Nachweis einer Milbe aus der Familie der Histiostomatidae (wobei aufgrund der fossil erhaltenen Merkmalssituation – die Milbe war teilweise beschädigt – des Tieres auch die Zugehörigkeit zu einer anderen, nah verwandten Milben-Gruppe nicht  auszuschließen ist). Das Alter des Tieres aus dem Eozän (44 bis 49 Millionen Jahre) wird von uns als Mindestalter angesehen, dennoch wissen wir nun sicher, dass die eigenartige Verbreitungsweise dieser Milben, nämlich ein größeres und schnelleres Tier als „Taxi“ zu gebrauchen, schon Millionen Jahre alt ist.

Aus der Milben-Gruppe, mit der ich mich derzeit befasse, sind bislang nur wenige Fossilien bekannt, was auf die geringe Größe dieser besonders kleinen Tiere zurückzuführen ist. Sie werden dadurch nämlich oft übersehen. Bessere optische Technologien, aber auch die gewachsene Aufmerksamkeit der interessierten Zoologen, werden dazu führen, dass bislang im Bernstein kaum beachtete Vertreter winziger Tiere wie diesen Milben, künftig viel besser wissenschaftlich bewertet werden können.

Auch das aus evolutionsbiologischer Sicht äußerst spannende Phänomen der gemeinsamen, aneinander gebundenen Evolutionsgeschichte unterschiedlicher Tiergruppen kann durch Bernsteinfossilien künftig wohl besser verstanden werden.

Ein gutes Beispiel für diesen Forschungsansatz sind Milbenarten, die an unterschiedlichen Arten von Borkenkäfern gebunden sind. Möglicherweise hat man es hier mit Koevolution zu tun. So bearbeite ich derzeit ein Bernsteinstück, das einen heute ausgestorbenen Borkenkäfer mit winzigen Milben behaftet enthält. Diese Milbenart zeigt bereits äußerliche Merkmale, die man auch bei heutigen Borkenkäfermilben aus dieser Verwandtschaftsgruppe finden kann.

Es ist im Übrigen ganz grundsätzlich bei der Bewertung von Fossilien stets zu berücksichtigen, dass sie die Artenvielfalt und ökologische Zusammenhänge vergangener Zeitalter, abhängig von zufälligen Einbettungsereignissen, stets nur lückenhaft wiedergeben. Fossilien sind daher als kleines Puzzlestück aus einem großen Ganzen zu bewerten, das zu einem beträchtlichen Teil auf immer verloren ist.

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Foto oben: Spinne im Bernstein – Copyright: Jason Dunlop, Museum für Naturkunde Berlin.

CT-Foto unten – Copyright: University of Manchester/Andrew McNeil.

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